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2020-2029Natur in Harmonie
Vor gut 200 Jahren musste noch niemand von Überbevölkerung, Luftverschmutzung, Rodung des Regenwalds, Dezimierung der Artenvielfalt oder gar einer Klimakatastrophe sprechen. Da besaß Joseph Haydns Oratorium "Die Schöpfung", uraufgeführt 1798, nicht die Brisanz wie heute...
...Der Charme von Haydns Vertonung liegt in der Schönheit und Lauterkeit seiner Melodik und einer wunderbar klaren Harmonik, die dank klassischer Instrumentierung selbst wie Natur wirkt. Jeder der zahlreichen Chöre besitzt, meist im Dialog mit den Solisten, eine Frische, die beim Zuhören Glückshormone ausschütten kann. Dabei bietet der Beginn, "die Vorstellung des Chaos", erst einmal so viele verschränkte Dissonanzen auf, wie Ende des 18. Jahrhunderts gerade noch schicklich waren. Wie gewaltig strahlt wenig später gerade deshalb das gleißende C-Dur von "Es ward Licht".
Mit dem Orpheus-Chor, Susanne Bernhard, Bernd Oliver Fröhlich und Matthias Winckhler sowie dem Originalklang-Ensemble La Banda fand unter Gerd Guglhör im Herkulessaal eine Aufführung statt, die Haydns Musik ebenso federnd wie gut durchlüftet präsentierte, weil instrumental wie vokal stets "sprechend" artikuliert wurde...
Wahrhaft schön
Der Orpheus-Chor bringt in einem Abend mit geistlicher Musik die Kompositionen von Schnittke und Tschaikowsky in der Sendlinger Himmelfahrtskirche eng zusammen.
Exakt 100 Jahre liegen zwischen der Entstehung von Peter Tschaikowskys drittem "Cherubinischen Gesang" von 1884 und den "Drei geistlichen Gesängen" von Alfred Schnittke. Da beide sich
als liturgische Musik auf ähnliche Quellen und traditionelle Formeln beziehen, schrumpfte der
Abstand so sehr, dass man ihn beim Hören kaum mehr wahrnahm. Und weil das Publikum in der
Himmelfahrtskirche Sendling beim Konzert des Orpheus-Chors unter Gerd Guglhör so gebannt
war, applaudierte es dazwischen auch nicht.
Ohne Pause und Beifall folgte das gut halbstündige Requiem Schnittkes. Es begann erneut archaisch, bevor mit dem skandierenden "Kyrie" und einem dissonanten "Dies Irae" ganz neue Töne
angeschlagen wurden. Im "Tuba Mirum" grundierte wirklich die Posaune des Jüngsten Gerichts
machtvoll den in Tönen marschierenden Chor.
"Recordare" und "Lacrimosa", das erneut mit Jasmin Binde, Roswitha Schmelzl und Katharina
Guglhör drei Soli überstrahlten, brachte bange Ruhe in das Geschehen, bei dem der Chor immer
wieder in eine eigentümliche Mischung aus Singen und Sprechen verfiel, Schlagwerk und Orgel
den Singenden in die Parade fuhren oder E-Gitarre und E-Bass das Klangbild leicht verfremdeten.
Sphärenklänge gab es dagegen zu hören im "Sanctus" mit Tenor-Solo (Sören Decker) und bei den
schwebenden Harmonien von "Benedictus" und "Agnus Dei" mit Altsolo samt den irrealen Klängen
einer Celesta. Das "Credo" erhielt durch ein Drumset eine weltliche Färbung, bevor mit dem
abschließenden "Requiem aeternam dona eis" der Bogen zum Beginn geschlagen wurde.
Nur schade, dass etliche Plätze in der kleinen Kirche leer blieben, denn derart präzise, konzentriert, aber auch wahrhaft schön gesungene geistliche Musik, unterbrochen nur durch Texte von
Jürgen Henkys, Adam Zagajewski und Hilde Domin, die Christoph Hirschauer las, enthält mit jeder
Phrase eine humanitäre Botschaft, die nicht oft genug gehört werden kann.
Gewaltige Herausforderung - Der Orpheus-Chor singt Claudio Monteverdis Marienvesper in der Schwabinger Erlöserkirche.
1991 hat der Orpheus-Chor unter Gerd Guglhör, der das Ensemble neun Jahre zuvor gegründet hatte, Claudio Monteverdis berühmte Marienvesper von 1610 das erste Mal gesungen. Seither gehört sie zur DNA des Chors, auch wenn eine Aufführung nur alle Jubeljahre möglich ist. Denn die Anforderungen dieses anderthalbstündigen Werks an der Schwelle von Renaissance und Barock, das seinesgleichen in der Musikgeschichte sucht, sind ebenso gewaltig wie heikel, nicht nur, weil es gelegentlich doppelchörige Zehnstimmigkeit gibt.
In der bis auf den letzten Platz besetzten wunderschönen Schwabinger Erlöserkirche gelang Guglhör mit seinem Chor, exzellenten Solisten und dem Originalklang-Ensemble La Banda mit wenigen Streichern, Theorbe, Barockposaunen, Zink und Orgel eine federnd gespannte und farbig lebendige Interpretation, die an manchen Stellen den Kirchenraum mit seinem Hall geradezu rauschhaft füllte.
Nur drei Jahre nach seinem "L'Orfeo" entstanden, der mit derselben Hymne der Gonzaga beginnt (hier freilich gesungen), experimentiert Monteverdi mit opernhaften Elementen, die er in vier "Concerti" präsentiert, und wird zugleich den Anforderungen eines geistlichen Werks gerecht. Das fordert einem Tenor wie dem großartigen, ebenso leuchtkräftigen wie stilsicheren Maximilian Vogler einiges ab. Rodrigo Carreto singt ein traumhaftes "Duo Seraphim" mit ihm oder ist sein buchstäbliches Echo. Auch die beiden Soprane Gerlinde Sämann und Veronika Mair duettieren immer wieder berückend, das Sextett vervollständigen mit etwas weniger großen Aufgaben die Baritone Manuel Winckhler und Sebastian Myrus.
Der Wechsel von solistischen und chorischen Partien gelingt ebenso aufregend wie das Nebeneinander von intim Zurückhaltendem und der großen dramatischen Geste. Mehrfach kehrt die Beschwörung der göttlichen Trinität wieder, und damit endet das Werk auch triumphal: "Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto - Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, in Ewigkeit, Amen."